Kapitel 1: Die Leiche aus Stahl
Inhaltswarnung:
Blut, Misshandlung (körperlich und
emotional), Entführung, Tod
Die Leiche aus Stahl steht
trotzig am Rand der Stadt. Überbleibsel der einstigen Vegetation, welche tief
in der Erde verwurzelt sind, hatten einst im verzweifelten Versuch den Himmel
zu erreichen, den Giganten überwuchert. Je näher die Ranken und Zweige der
Spitze kommen, desto sichtbarer werden die Anzeichen von Radioaktivität und
krebsartiger Mutationen auf deren Überresten.
Am Boden ist nur noch wenig erkennbar von den Überresten der
rudimentären Modelbauweise des Gebäudes, welches dort einst stand. Knollenartiges
organisches Material, mehr verkohlt als lebendig, welches noch nicht vollkommen
verrottet war, sieht aus wie eine Art Fleisch, dass das Stahlskelett umgibt.
Zement, Gips und Asbest liegen verrottet und verbrannt unter dem Skelett und
sind schon lange zu Gefahrengut zerfallen. Weiter oben am Gebäude ist die
Bauweise jedoch deutlich auffälliger. Seine einstige Form ist deutlicher erkennbar.
Ich blinzele ein paar Mal
bevor ich mir den Ort des Verbrechens ansehe. Kalten grauen Augen passen sich
an und wechseln die Perspektive, doch egal wie ich diese Szene auch betrachte,
sie ist immer noch erschreckend. Ein langer Seufzer entweicht meinen Lippen,
als ich den Anblick nicht länger ertragen kann. Wie angewurzelt bleibe ich
stehen und lasse meinen Blick auf den Boden vor mir fallen. Die Leichen von
zwei jungen Männern liegen übereinander auf dem Bürgersteig. Betrachtet man die
Verfassung in der die Leichen waren und wie weit versprengt die einzelnen Teile
ihres Körpers sind, lässt sich erahnen dass sie von hoch oben aus dem
Stahlskelett herabgefallen sein mussten. Es sieht aus wie ein Rorschach-Muster.
Einer
sieht für mich aus wie ein wolliges Schaf…. Keine Ahnung was ein Psychologe aus
dieser Beobachtung schließen würde.
Ich schließe meine Augen für
eine halbe Sekunde bevor ich sie wieder öffne und die Überreste vor mir, sich
in ein Kunstwerk verwandeln. Auf dem Boden liegen Fleischklumpen und Früchte,
über die ein reichhaltiger violetter Wein gegossen wurde, der für einen
Durstigen wie mich nur allzu verlockend aussieht. Wäre da nicht dieses
verräterische Pulsieren und Schimmern des Bildes, könnte ich mich fragen,
welcher Anblick wohl die Wirklichkeit ist.
Oh
sei nicht beunruhigt lieber Leser, wir werden dieses Fass nicht öffnen. Bilder
die an das Klischee von Dantes Inferno erinnern, sind genug, du wirst mich nie
damit kämpfen sehen, Wahrheit von Fiktion zu unterscheiden. Sicher, wir alle
erzählen uns kleine Lügen, um den Tag mit gesundem Verstand zu überstehen, aber
eine Mordszene familienfreundlich zu gestalten, ist nur eine weitere
Möglichkeit, die Massen ruhig zu halten, und wenn ich es zufällig benutze, um
die Monetisierung dieses Inhaltes zu erhalten, nun, wer ist dann das Opfer?...
abgesehen von den „verderblichen Waren“ um mich herum, natürlich.
Auf dem Boden zwischen den
Leichen verteilt, liegen Überreste von Schaltungen und Metallhüllen. Trotz des
Durcheinanders ist es einfach zu erkennen was die ursprüngliche Aufgabe der
Teile gewesen ist. Zersprungene Bildschirme in ihren Hüllen machen es nur all
zu offensichtlich. Die Kinder ähneln, trotz des zerfetzten Zustandes ihres
einstigen Aussehens, den Leuten die zu den mittellosen Massen in den Außenbezirken
der Republik gehören und nur so vor sich hinvegetieren. Wer auch immer diese
Kinder sind und was auch immer den jetzigen Zustand herbeigeführt hat, ihre
einstige Herkunft lässt sich damit nicht verschleiern.
Total Body Suits, oder kurz TB
Suits, wie diese sind einer von vielen Wegen wie die Menschheit es schafft in
diesem neuartigen Ökosystem zu überleben. Ein schwerer Rucksack enthält alle
Geräte die zum Filtern von Luft und schädlichen Flüssigkeiten benötigt werden.
Zudem enthält es eine Stromversorgung für die Monitore und Soundgeräte die zum Betreten
des Duoverses benötigt werden. Die Haut ist mit einem hauchdünnen Film bedeckt,
der den Träger vor der Strahlung und anderen Verunreinigungen schützt… zumindest größtenteils.
Diese Technologie ist
veraltet, aber funktional, wenn auch sehr unkomfortabel. Selbst die Unterschicht
der Republik kann sich normalerweise bessere Methoden leisten. Implantate im
Hals zur Reinigung der Atemluft und Gewebeersatz sind Standard. Im Kindesalter
gehört es zu den gesellschaftlichen Ritualen, dass diese angebracht werden,
sodass als Teenager nur noch ein Headset benötigt wird, um an der Gesellschaft
teil zu haben. Die Mittelschicht hat sogar die IIs, künstliche Augen, welche
einen wichtigen Teil im Leben innerhalb der Republik darstellen. Sie werden im
Alter von 6 Jahren implantiert und ermöglichen es auch ohne eine Form des
Headsets auszukommen.
Ich drehe dem Stahlskelett für
einen Moment den Rücken zu und betrachte aus der Entfernung die Stadt, die
durch die verschiedenen Neonlichter aus Purpurrot und Türkis hell erleuchtet
werden. Auch wenn die Sonne gerade erst beginnt unterzugehen, erscheint die Republik
wie ein Leuchtfeuer, welches alles mit seiner künstlichen Anziehungskraft überstrahlt.
Mit einem Zwinkern trübt sich mein Blick. Ein staubig-brauner Dunst legt sich
über die Stadt und die Gebäude wirken wie abgenutzte graue Säulen, eine so
einheitlich und funktionell wie die andere. Die Sonne hat gerade erst begonnen
unterzugehen, dennoch hüllt der Smog, den unsere Vorfahren hinterlassen hatten,
den einst blühenden Planeten in einen Vorhang aus melancholischem Staub. Die
Ausscheidungen eines verlorenen Volkes, das wir nicht mehr als unser Eigenes
ansehen. Anstatt unter der Erde in eine sinnvollere Form zu verschmelzen,
verweilen sie immer noch in allem um uns herum. Ein letztes Geschenk von denen
die nichts anderes taten als sich zu nehmen.
Die Ecke des Gebäudes erlaubt
mir einen einfachen Zutritt. Die schon lange tote Vegetation formt einen Hang,
der in den dritten Stock führt. Nach dem tückischen Aufstieg erkenne ich
Anzeichen von menschlicher Besiedlung. Diese gleicht einem parasitären Befall,
die jeden Wirt überlebt. Weggeworfene Sodaflaschen, Lebensmittelverpackungen
und unzählige Zigarettenstummel sind über den provisorischen Fußboden aus
geflickten Holzbrettern und zerfallendem Zement verstreut.
Wenigstens
hatten sie die Intelligenz das Areal zu verstärken, in dem sie ihre Zeit
verbrachten. Ich frage mich, wie sie dann zerfetzt draußen gelandet sind?
Jeder Schritt wird von einem
Knacken unter meinen Füßen begleitet. Manchmal leise wie ein Seufzen, ein
anderes Mal laut wie ein gequältes Stöhnen. Durch ein klaffendes Loch kann ich
in die Dunkelheit hinabblicken, irgendwie kann ich mir nicht helfen und muss
einen Moment auf die sich sanft bewegende Flüssigkeit, mehrere Stockwerke unter
mir starren. Das Fundament des Stahlskeletts ist nun ein Auffangbecken und hat
über Jahrzehnte hinweg Regenwasser aufgesammelt. Dieses bildete einen am Grund
einen stagnierenden Eintopf, welcher einen Geruch abgibt, der meine Sinne
wesentlich mehr angreift, als das frische Fleisch draußen.
Wären die Parasiten dort
hineingefallen wären sie ganz einfach zu einem Teil dieser Brühe geworden,
verdaut von dem bereits verrottenden Stahlskelett, ohne das jemals jemand von
ihrem Schicksal erfahren hätte. Soweit man weiß könnten dort unten schon
Dutzende mehr sein, die dachten dass es eine gute Idee sei sich in ein
verlassenes Gebäude zu schleichen.
Solche
Typen werden meistens nicht gefunden, auch wenn in einem seltenen Fall jemand
tatsächlich nach ihnen sucht, sinniere ich.
Ungeachtet dessen, was auch
immer zu den zerfetzten Leichen dort draußen geführt hat, scheint kein
vorsätzlicher Mord gewesen zu sein. Mit Sicherheit hat die Typen irgendwas
bereits vor dem Fall so „zart“ gemacht.
Die Holzbretter führen mich zu
einer metallenen Box, welche sich bis zum Himmel erstreckt. Es handelt sich
dabei um einen Aufzugsschacht, der es den Bewohnern erlaubt von einem Stock in
einen anderen zu gelangen. Nun jedoch war die Methode eine einfache
Sprossenleiter die im Inneren des Schachts angebracht ist. Ich beginne die
Leiter heraufzuklettern und bin angenehm überrascht zu sehen, dass die Leiter
nicht mehr als ein einfaches Klirren von sich gibt, welches von dem Kontakt von
Metall auf Metall herrührt.
Bei jedem neuen Stock schaue
ich durch die Öffnungen und finde nichts anderes vor, als zerfallene Überreste
ohne ein Zeichen für Leben. Alle dutzend Sprossen fehlen einige davon oder
hängen nur noch an einer Seite herab, zumindest im Moment erscheint dies
günstig. Mit jedem Stock den ich hinter mich bringe, kann ich mir nicht helfen
und frage ich mich, ob es sich so anfühlt wenn man reich ist. Wie ein gesundes
Kind mit einem Baumhaus vor dem Fall. Dieser Aufzugsschacht führt zu dem
Geheimversteck der Kinder bei dem sie dachten, dass es sicher sei.
So
sicher wie man in den Außenbezirken sein kann, nehme ich an.
Endlich finde ich mich an
einer Öffnung wieder, die Anzeichen von Leben zeigen. 5 Kabelsätze sind um
einen nahen Stahlträger gebunden und in diesem Stockwerk wahllos gebündelt. Sie
haben diese Sachen wohl als Kletterausrüstung für ihren Weg hinauf verwendet,
was nun die Frage aufwirft: Wie viele mehr von ihnen sind in diesem Gebäude?
Keiner hat die Kabel verwendet um hinabzuklettern, aber zwei haben auf jeden
Fall den schnellen Weg ins Erdgeschoss genommen.
Dieser Stock erscheint
sicherer als alle anderen zuvor. Der Beton und etwas Gips sind zu großen Teilen
immer noch intakt und bilden ein gebrochenes Netz aus betretbarem Terrain.
Zerklüftete Ränder öffnen sich scheinbar zufällig zu kleinen Löchern, aber das
meiste des Areals erscheint stabil bis hin zu den Rändern der Räume, die den
tragenden Teilen des Gebäudes am nächsten sind. Vorsichtig tippe ich mit meinem
Fuß auf den Boden, um zu testen ob er mein Gewicht halten würde. Mit einer Hand
halte ich mich immer noch an der Sprossenleiter fest, bevor ich mich dazu
durchringe den ersten Schritt zu wagen. Mein Körper ist schwerer als der eines
normalen Menschen und wenn man sich die Überreste der Kinder draußen ansieht,
scheint es sich bei ihnen um Leichtgewichte zu handeln.
Sichergehend dass ich so nah
wie möglich an den Rändern bliebe, bewege ich mich vorwärts durch die
Dunkelheit. Nach all der Zeit ist es unmöglich zu sagen, ob es sich um eine
Ansammlung kleiner mietbarer Büroräume oder „extrem preiswerter“ Wohnräume
handelt. Jeder Raum, der mit dem Hauptkorridor verbunden ist, war eine Kopie
des vorherigen 15x15 Würfel. Die perfekte Größe für einen Arbeitsplatz oder ein
Bett mit ein wenig Platz um sich zu dehnen und herumzulaufen. Es war der letzte
Schrei des 21ten Jahrhunderts: Mit weniger mehr erreichen. Wenn es keine Freude
bereitet, dann wird es rausgeschmissen. Wenn du dir Freude nicht leisten
konntest, hattest du wenigstens ein Dach mit vier Wänden. Dann konntest du
Stolz sein nur einen kleinen Klimaabdruck zu hinterlassen, zusammen mit
tausenden anderen Personen die dieses Gebäude ebenfalls bewohnten. Alle
bezahlten den reichen Vermieter, der sich selbst auf die Schulter klopfte, dafür
dass er Wohnraum für Geringverdiener anbot.
Nein
sorg dich nicht lieber Leser, dies ist keine dieser weinerlichen Geschichten
mit einer versteckten Nachricht, bei der es um die Natur oder die Rettung des
Planeten geht. Unser Problem hat sich schließlich von selbst erledigt. Nicht
ohne Opfer, aber… Das ist eine Geschichte für ein anderes Mal. Genau jetzt bin
ich besorgt über ein anderes zerfallendes Ökosystem.
Weinen!
Ganz leise in der Ferne zu
vernehmen, gedämpft durch die vielen Schichten zwischen der Quelle und mir.
Ich lege meine Fingerspitzen auf
die zerfallene Wand und fühle die Vibrationen die das Geräusch erzeugt.
Unsicher, unregelmäßig und unverkennbar menschlich. Ein Abbild der Umgebung
formt sich in meinen Gedanken - ein Kind, das von den Sensoren in meinem Arm
und der Optik meiner IIs erzeugt wurde. Wie bei einer Fledermaus ausgenommen
von dem übermäßigen Kreischen – zumindest aus meiner Sicht. Nimm die Dritte links und dann
der 6te Raum auf der rechten Seite: Dort ist der Ursprung des Gejammers.
Drinnen treffe ich auf einen
Jugendlichen, der wie in einem Bündel zusammengerollt ist. Der Junge hat sich
in eine Embryonalstellung zurückgezogen und
wimmert in seine Arme und Knie. Meine rechte Hand ballt sich zu einer Faust,
während ich mein Bestes gebe meinen Gesichtsausdruck zusammen mit meiner
Tonlage ruhiger werden zu lassen.
„Kleiner… bist du in Ordnung?“
Sein Kopf schnappt hoch und er
blickt mich sofort an. Helles blaues Haar fällt in seine weitaufgerissenen
gelben Augen, welche mit Panik erfüllt sind. Der übergroße grüne Wanderrucksack
auf seinem Rücken und die Art und Weise wie er zusammengekauert da sitzt,
verleihen ihm das Aussehen einer Schildkröte, die vorsichtig aus ihrem Panzer
hervorlugt.
Feigling
in einem Halben Panzer. Cowabunga.
„E-es…. S-Sie… Wer..?“
Der Junge stotterte einige
Worte, während er nach Luft schnappt. Jedoch sagten mir diese nicht viel. Immer
noch unsicher, ob ich es nun mit einem reumütigen Mörder oder einem traumatisierten
Opfer zu tun habe, setze ich mit einer möglichst sanften und fürsorglichen
Stimme fort:
„Ich bin Fulgur Ovid, Legatus
der Division 505. Kannst du mir sagen was hier passiert ist?“
Bei der Erwähnung meiner
Division brach das Kind nach vorne zusammen, auf Händen und Knien in meine Richtung
krabbelnd. Unbewusst trete ich einen Schritt zurück und hebe meine Arme in
einer abwehrenden Geste, als das Kind sein Jammern fortsetzt:
„Rette mich- Du musst- Es-
Bitte rette mich, es ist immer noch hier irgendwo!“
Die Augen des Kindes sehen
sich panisch um, suchend nach Hilfe, welche nirgendwo zu finden ist, während
sein Körper an Ort und Stelle erstarrt.
Ein weiterer Seufzer entweicht
meiner Kehle, ohne dass sich mein Mund öffnet, während ich mich wieder entspanne.
„Okay, beruhig dich Kleiner.
Was genau ist „ES“?“
Gerade als diese Frage meine
Lippen verlässt, wird ich mir bewusst, dass sich mir ein seltsames Geräusch
nähert, welches immer lauter wird. Dieser Zementsarg erschwert zu sagen aus welcher
Richtung es mich erreicht, nur mit der alleinigen Hilfe meiner Ohren. Also
trete ich einen Schritt zurück in den Korridor und lasse meine Hand ein
weiteres Mal auf dem zerfallenden Rahmen ruhen. Instinktiv weicht der Teenager
zurück in die hinterste Ecke und rollt sich wieder in eine Embryonalstellung zusammen.
Es kommt von links, jedoch nur
sehr langsam. Mit jeder Sekunde wird das Geräusch klarer – eine Art von
Schleifen und Ziehen von fleischlichem Material, wie es sich fortbewegt. Ich
trete einen Schritt heraus und in den Flur hinein. Dort warte ich darauf mich
mit „ihm“ auseinanderzusetzen.
„Ist… sie diejenige vor der du
Angst hast?“ frage ich, erwarte jedoch keine Antwort. Stattdessen setze ich
mein Gespräch mit „ihr“ fort. „Gnädige Frau, ich bin hier um zu helfen. Sind Sie
in Ordnung?“
Sie hört auf sich zu bewegen.
Ihr Kopf jedoch bewegt sich von einer Seite zur anderen, als sie versucht meine
Stimme in der Dunkelheit auszumachen. Die Form, die ich in einer Ecke erkenne,
ist die einer erwachsenen Frau, deren Fußgelenke verbunden und deren
Handgelenke hinter dem Rücken gefesselt sind. Das alles in einer sehr
schmerzhaft aussehenden, yoga-ähnlichen Position. Ein helles Nachthemd bedeckt
ihren Körper, was jedoch einen Großteil der Haut der toxischen Luft
auslieferte. Ein paar Schluchzer und ein Murmeln entkommen ihrem Mund, welcher
wie ich jetzt erst feststelle, geknebelt ist. Die Kabel an ihren Extremitäten
und eine Binde über ihren Augen sind die einzigen anderen Materialien die ihre
blasse Haut zusätzlich bedecken. Der Junge in der einen Ecke des Raumes beginnt
laut zu weinen und schreit:
„Töte es! Töte es bevor es uns
kriegt!“
Die Frau rutscht auf dem
dreckigen Boden hin und her, da sie sich nur so fortbewegen kann, ihre Knie von
Schrammen gezeichnet. Während sie sich durch die Finsternis quält, quillt eine
dunkle Flüssigkeit aus dem zerrissenen Fleisch hervor.
„Gnädige Frau, ich bin nicht
hier, um Ihnen wehzutun.“ Ich öffne meine Arme und obwohl sie mich nicht sehen
kann, strecke ich ihr meine Finger, in einer harmlosen Gestik, entgegen, als
ich mich auf den Weg zu ihr mache. „Ich bin ein Legatus. Während ich Sie
entfessele, müssen Sie einen Moment still halten. Können Sie mir den Gefallen
tun?“
Ein zustimmendes Stöhnen
entweicht ihren Lippen, während sie nahezu genau so viel schluchzt wie der
Junge. Ich knie mich zu ihr und schaue mir ihren Körper an. Ich blinzele einige
Male vor Ekel. Sie ist definitiv schon seit einer Weile hier und es gibt mehr
als genug Anzeichen, dass sie Opfer von Missbrauch wurde.
„Ich kann die Fesseln nicht
lösen oder Ihnen die Augenbinde abnehmen, aber Sie können jetzt sprechen.
Können Sie mir Ihren Namen nennen und was genau vorgefallen ist?
Nachdem ich ihr die Mundsperre
abnahm, keuchte sie einige Male.
„D-Dana", sagt sie,
während ich sie aufmerksam beäuge.
„Es wird alles gut, Dana. Sie
können Ihnen nicht mehr wehtun", ganz besonders die dort draußen, füge ich
für mich selbst hinzu. „Wie sind Sie hier gelandet?"
Wieder in der Lage zu
sprechen, schluchzt sie noch einige Male. Ein gewaltsames Zittern durchfährt
jedes Mal ihren Körper. Ich wünschte, ich könnte es für sie angenehmer machen,
doch die verbogene und blinde Gestalt ist jenseits meines Einflusses.
"Ich weiß es nicht!"
Sie schluchzt weiter und ich warte darauf, dass sie aufhört. Ihre Stimme ist
kratzig, ein bisschen pfeifend. „Ich weiß noch, dass ich letzte Nacht schlafen
gegangen bin. Oder- vielleicht ist es auch schon einige Tage her. Als ich
aufwachte, fand ich mich… so… in einem anderem Raum festgebunden vor. Ich
konnte weder sprechen noch etwas sehen, aber ich habe versucht um Hilfe zu
rufen. Ein wenig später sind sie aufgetaucht. Sie verhöhnten und… lachten mich
aus... sie... sie bewarfen mich mit Dingen und traten mich!" Mittlerweile
ist sie in Tränen ausgebrochen.
Ich knie eine lange Zeit neben
ihr. Ich kann ihr nur durch sanftes Tätscheln Trost anbieten, während sie ihrem
Schmerz und der Qual Raum lässt. Als sie beruhigt hat, schmerzen mein Rücken
und meine Oberschenkel vom Hinknien. Mitanzusehen, in was für einer
Verzerrung sie gezwungen ist zu existieren, sorgt bei mir für frustriertes
Zähneknirschen. Sie weiß nicht einmal, weshalb sie hier ist und wer dafür
verantwortlich ist. Stillschweigend sitzen wir auf dem Boden und sind beide
unfähig, den nächsten Schritt zu wagen.
„I-Ist es fertig?"
Die Teenager-Schildkröte hebt
ihren Kopf aus dem Raum hervor, in dem sie sich versteckt. Seine Worte sind von
Tränen und Rotz unterdrückt.
„Das ist einer von
ihnen!" schreit die Frau als sie rückwärts kriecht. „Sie haben mich
Stunden, vielleicht sogar Tage, gequält, bevor sie endlich eine Pause gemacht
haben. Nur dann so konnte ich mich vom Boden befreien. Als sie wieder auf mich
zukamen, habe ich sie geschlagen um zu entkommen. Hier müssten noch zwei
weitere sein! Sie müssen sie verhaften!
Während die Frau panisch
schreit, starre ich den Jungen an. Er ist wieder geschrumpft und sein Gesicht
zeigt seine Schuld, als es sicherheitshalber in einen anderen Raum
verschwindet.
„Das werde ich",
verspreche ich ihr, während ich weiter meine Hand erhebe. „Er und seine Freunde
werden ihre gerechte Strafe erhalten. Er traut sich nicht einmal
wegzulaufen." Ein weiteres Mal tätschele ich die Schulter der Frau mit
meiner freien Hand in Mitgefühl. Da ich bemerke, dass es sie zu beruhigen scheint,
lege ich meine Hand behutsam auf ihren Hinterkopf. „Nun, sind Sie bereit, dass
ich Sie befreie?"
Sie nickt und windet sich ein
wenig, um mir mehr von ihrem Rücken und der verdrehten Stellung zu zeigen, in der sie gefangen ist.
Der Anblick schimmert und pulsiert leicht. Ihre blasse Haut ist so klar wie
Frost im Winter, das Goldbraun ihrer Haare so leuchtend wie die letzten
Blätter, die sich an den Baum im Winter klammern. Zu Lebenszeiten muss sie eine
einmalige Naturschönheit gewesen sein.
-KNIRSCH-
Ich schließe meine Faust auf
der Hinterseite ihres Schädels. Ein letztes Mal pulsiert ihre Gestalt mit dem
Licht bevor es schlussendlich verblasst und mit den gedämpften Tönen des
Gebäudes drum herum übereinstimmt. Ein Schaltkreislauf und Metallregen auf dem
Boden. In meiner Hand verbleibt nur noch eine zerschmetterte Festplatte. Ich
ziehe meine Hand zurück und betrachte den Rest der echten Gestalt vor mir.
In einem anderen Leben wäre
diese Maschine vermutlich Teil eines Baugerätes, welches mit einer AI für
automatisierte Arbeitsabläufe ausgerüstet wurde. Sie wurde mit dem Gebäude sich
selbst überlassen, bis eine Gruppe Monster sie fand und ihr wieder einen Nutzen
gab. Die Arbeit ist schäbig und zahlreiche Kabel und Komponenten quellen aus
ihrer ursprünglichen Form, die einer Box ähnelt. Die zusammenhängenden Gleise,
die ihr einst Bewegung verliehen, sind gerostet und zerbrochen, dies betrifft
auch die zusätzlich hinzugefügten Kabel und Komponenten, die sie unter sich her
schleift. Sofern notwendig, ist die Maschine auch dazu in der Lage, Wände zu
durchbrechen. Daher konnte sie kurzweilig einen Stoß ausführen, bewegte sich
aber anderweitig eher langsam fort. Es ist nicht überraschend, dass sie dachte,
sie sei gefesselt und am Boden befestigt. In ihrem "Verstand" stellte
sie sich wahrscheinlich lediglich vor, wie sie ihren Kopf gegen die zwei Jungen
drückte, die sie durch die Wand schmetterte.
Bei "ihr" handelte
es sich um einen modifizierten I'mprint, den die Jugendlichen in den Bot
eingespeist hatten.
I'mprints definieren sich als
eine digital codierte Form des menschlichen Bewusstseins. Diesen Prozess gibt
es schon seit mehreren Jahrzehnten und hat eigene Gesetzvorschriften, mit denen
ich euch nicht langweilen will. Die wichtigste dieser Regeln haben die Jungs
nicht befolgt: Ein I'mprint muss sich immer daran erinnern können, dass es ein
I'mprint ist. Nachdem die Prozedur abgeschlossen ist (was, ähnlich wie bei
einem MRT, einen halben Tag in einer Maschine bedeutet), kann das I'mprint
Monate, Jahre, oder sogar Jahrzehnte später aktiviert werden. Als letztes
müssen sie sich an die Prozedur erinnern, sodass sich I'mprints immer ihrer
Identität bewusst sind, selbst wenn sie unter einem anderen Umstand aufwachen.
Diesen spezifischen Code zu bearbeiten, kann dafür sorgen, dass das I'mprint
seine Erinnerung daran verliert und glaubt, die ursprüngliche Person zu sein
und sich nicht bewusst ist, dass es sich um eine I'mprint-Kopie handelt.
Glücklicherweise gibt es nur eine Handvoll an Personen, die jemals erfolgreich
ein I'mprint gehackt haben.
Wer auch immer dieses I'mprint
gehackt hat, hat gute Arbeit geleistet. In einigen Fällen würde es Kontrolle
über sich selbst verlieren. Jedoch hat dieses sich an seinen ursprünglichen
Namen und die physische Form erinnert, sodass es sich davon überzeugen konnte,
lediglich gefesselt zu sein. Es war sich nicht bewusst, dass es sich nur um
eine Maschine ohne funktionierende Sicht oder Glieder handelt. Die
Sprechfunktion war stummgeschaltet um den Horror zu verdrängen, dem es ausgesetzt
war. Dana hat als I'mprint so viel Horror durchlebt und wurde im Glauben
gelassen, es handelte sich um mehrere Tage. In Wahrheit hatten die Jungs
wahrscheinlich Wochen, wenn nicht sogar Monate, damit verbracht, sie zu
missbrauchen und sie zwischen den Sessions ausgeschaltet. Währenddessen hätte
Dana als Frau überall sein können und ihr Leben in vollen Zügen genießen
können. Sie weiß vielleicht noch nicht einmal, dass jemand ihren I'mprint Code
gehackt und mehrere Kopien ihrer Vergangenheit erstellt hat, damit Monster mit ihnen zu spielen können. Oder sie hat
ihren eigenen Code für ein wenig Extrageld verkauft. Sobald das Original von
diesen Situationen hört und welchen Taten ihre Kopien unterworfen wurden, führt
dies normalerweise zu Reue. Ich habe keinen Mund, doch muss ich schreien. Ich
habe keine Nerven, doch spüre ich Schmerz... unaufhörlich.
Ein
weiter Hinweis nach diesem Fall. Falls es der überlebende Junge nicht macht,
könnte es zum Hacker selbst führen.
Ein Geräusche-Chor reißt mich
aus meinen Gedanken, als die Teenager-Schildkröte ihre Beine wiederfindet und
zum Aufzug krabbelt, nun in Sicherheit vor dem Monster, welches sie selber
erschaffen hat. Ich schließe bereits zu ihm auf, während er die Kabel verbindet
um hinabzusteigen. Während ich voranschreite, halte ich ihn am Kragen fest.
Sein Oberkörper ragt über den leeren Schacht. Würde ich loslassen, würde er
genau wie seine Freunde herunterfallen. Allerdings würde er durch keine Wand
geschmettert und so gesunde Proteine für den Stahlgiganten werden. Die
begrenzte Bewegungsfreiheit und die Tatsache, dass sie nicht sehr gut
auftreiben, sind ein weiter Grund, weshalb diese längst überholten Anzüge wenig
Anwendung finden.
"Bitte! Es tut mir leid!
Ich bezahle die Geldstrafe! Ich werde meine Zeit absitzen, tun Sie mir bitte
nicht weh", schreit das Kind, als seine fleischigen Hände sich verzweifelt
an meinen festen Arm klammern.
"Wo hast du den gehackten
Duo heruntergeladen?", frage ich. Meine Stimme ist dabei so bedächtig und
stählern wie mein Arm.
"Ich weiß es nicht! Ich
weiß es nicht".
Ich mache einen Schritt nach
vorne, so dass der Junge in einem noch viel gefährlicheren Winkel hängt. Ein
weiterer Schrei fährt aus ihm hervor. "Es war Darren! Mein Freund hat ihn
online bekommen! Von irgendeiner anon Porno-Website! Bitteeee!"
Während ich den Jungen einen
Moment hängen lasse, starre ich in sein Gesicht. Obwohl es sie pulsiert und
schimmert, ist die Angst echt. Das ist alles, was er weiß, daher hat er keinen
weiteren Nutzen. Ihn festzunehmen, führt wahrscheinlich nur zu irgendeinem
Wehrdienst, da seine Familie wohl kaum seine hohe Kaution bezahlen kann. Er
bekommt theoretisch eine Karrieregelegenheit dafür, dass er ein I'mprint
gequält hat... Es sei denn...
Während er im Schacht baumelt,
reiße ich das Kabel aus seiner Hand. Den einzigen Ausweg vom Unheil unter uns.
Wird er in der Schwere seiner Sünden ertrinken? Verdient er den Spinnenfaden
der Vergebung?
…
Ich
scherze natürlich nur, lieber Zuhörer. Ich unterstütze die Methoden im Umgang
mit Duo-Missbrauch der Republik nicht, zeitgleich bin ich aber auch nicht
arrogant genug, mich als Richter oder Vollstrecker anzusehen. Furcht ist nun
mal ein gutes Wahrheitsserum. Ich wäre schon längst wahnsinnig geworden, würde
ich bei jedem Fall emotional werden. I'mprints sind keine Menschen und obwohl
ich mit ihnen sympathisiere, lasse ich es nicht außerhalb meiner Arbeit an mich
heran. Meine Arbeit hier ist erledigt und ich kann es kaum erwarten, Feierabend
zu machen und etwas zu trinken.
Ich befestige das Kabel an dem
Rucksack des Kindes und blinzele erneut, wodurch seine pulsierende Visage
verschwindet. Stattdessen sehen meine grauen Augen nun das bisschen, was seine
wahre Gestalt ist. Es ist ein menschenförmiger, dumpfgrauer Klumpen, mit riesigen
optischen Linsen im Gesicht und einer kantigen Bauchgegend, die seine Atemluft
sauber hält. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass er sicher am Kabel
befestigt ist, schiebe ich ihn rüber zur Leiter.
"Wag es noch einmal zu
laufen und ich werde dir ein Ende bereiten", lüge ich, während ich ihn
loslasse. In Wahrheit wäre er problemlos einzufangen. Die Formalitäten, die ein
menschliches Opfer betreffen, würden wahrscheinlich mehr Aufwand benötigen als
ihn weiter zu verfolgen, von daher ist es am besten, dies zu vermeiden. Die Rückfahrt zum HQ dauert schon lange genug
und der Bericht oben drauf bringt mich schon in die Überstunden.
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Translator: Arina & Hikaru
Proofreader: Drawn
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