Special Thanks to Fulgur Ovid for letting us translate his great storyline into German!

12.06.2022

Kapitel 1: Die Leiche aus Stahl

 

Kapitel 1: Die Leiche aus Stahl

 

Inhaltswarnung:

Blut, Misshandlung (körperlich und emotional), Entführung, Tod



Die Leiche aus Stahl steht trotzig am Rand der Stadt. Überbleibsel der einstigen Vegetation, welche tief in der Erde verwurzelt sind, hatten einst im verzweifelten Versuch den Himmel zu erreichen, den Giganten überwuchert. Je näher die Ranken und Zweige der Spitze kommen, desto sichtbarer werden die Anzeichen von Radioaktivität und krebsartiger Mutationen auf deren Überresten.  Am Boden ist nur noch wenig erkennbar von den Überresten der rudimentären Modelbauweise des Gebäudes, welches dort einst stand. Knollenartiges organisches Material, mehr verkohlt als lebendig, welches noch nicht vollkommen verrottet war, sieht aus wie eine Art Fleisch, dass das Stahlskelett umgibt. Zement, Gips und Asbest liegen verrottet und verbrannt unter dem Skelett und sind schon lange zu Gefahrengut zerfallen. Weiter oben am Gebäude ist die Bauweise jedoch deutlich auffälliger. Seine einstige Form ist deutlicher erkennbar.
 
 

Ich blinzele ein paar Mal bevor ich mir den Ort des Verbrechens ansehe. Kalten grauen Augen passen sich an und wechseln die Perspektive, doch egal wie ich diese Szene auch betrachte, sie ist immer noch erschreckend. Ein langer Seufzer entweicht meinen Lippen, als ich den Anblick nicht länger ertragen kann. Wie angewurzelt bleibe ich stehen und lasse meinen Blick auf den Boden vor mir fallen. Die Leichen von zwei jungen Männern liegen übereinander auf dem Bürgersteig. Betrachtet man die Verfassung in der die Leichen waren und wie weit versprengt die einzelnen Teile ihres Körpers sind, lässt sich erahnen dass sie von hoch oben aus dem Stahlskelett herabgefallen sein mussten. Es sieht aus wie ein Rorschach-Muster.

Einer sieht für mich aus wie ein wolliges Schaf…. Keine Ahnung was ein Psychologe aus dieser Beobachtung schließen würde.



Ich schließe meine Augen für eine halbe Sekunde bevor ich sie wieder öffne und die Überreste vor mir, sich in ein Kunstwerk verwandeln. Auf dem Boden liegen Fleischklumpen und Früchte, über die ein reichhaltiger violetter Wein gegossen wurde, der für einen Durstigen wie mich nur allzu verlockend aussieht. Wäre da nicht dieses verräterische Pulsieren und Schimmern des Bildes, könnte ich mich fragen, welcher Anblick wohl die Wirklichkeit ist.
 
Oh sei nicht beunruhigt lieber Leser, wir werden dieses Fass nicht öffnen. Bilder die an das Klischee von Dantes Inferno erinnern, sind genug, du wirst mich nie damit kämpfen sehen, Wahrheit von Fiktion zu unterscheiden. Sicher, wir alle erzählen uns kleine Lügen, um den Tag mit gesundem Verstand zu überstehen, aber eine Mordszene familienfreundlich zu gestalten, ist nur eine weitere Möglichkeit, die Massen ruhig zu halten, und wenn ich es zufällig benutze, um die Monetisierung dieses Inhaltes zu erhalten, nun, wer ist dann das Opfer?... abgesehen von den „verderblichen Waren“ um mich herum, natürlich.



Auf dem Boden zwischen den Leichen verteilt, liegen Überreste von Schaltungen und Metallhüllen. Trotz des Durcheinanders ist es einfach zu erkennen was die ursprüngliche Aufgabe der Teile gewesen ist. Zersprungene Bildschirme in ihren Hüllen machen es nur all zu offensichtlich. Die Kinder ähneln, trotz des zerfetzten Zustandes ihres einstigen Aussehens, den Leuten die zu den mittellosen Massen in den Außenbezirken der Republik gehören und nur so vor sich hinvegetieren. Wer auch immer diese Kinder sind und was auch immer den jetzigen Zustand herbeigeführt hat, ihre einstige Herkunft lässt sich damit nicht verschleiern.

Total Body Suits, oder kurz TB Suits, wie diese sind einer von vielen Wegen wie die Menschheit es schafft in diesem neuartigen Ökosystem zu überleben. Ein schwerer Rucksack enthält alle Geräte die zum Filtern von Luft und schädlichen Flüssigkeiten benötigt werden. Zudem enthält es eine Stromversorgung für die Monitore und Soundgeräte die zum Betreten des Duoverses benötigt werden. Die Haut ist mit einem hauchdünnen Film bedeckt, der den Träger vor der Strahlung und anderen Verunreinigungen schützt… zumindest größtenteils.

Diese Technologie ist veraltet, aber funktional, wenn auch sehr unkomfortabel. Selbst die Unterschicht der Republik kann sich normalerweise bessere Methoden leisten. Implantate im Hals zur Reinigung der Atemluft und Gewebeersatz sind Standard. Im Kindesalter gehört es zu den gesellschaftlichen Ritualen, dass diese angebracht werden, sodass als Teenager nur noch ein Headset benötigt wird, um an der Gesellschaft teil zu haben. Die Mittelschicht hat sogar die IIs, künstliche Augen, welche einen wichtigen Teil im Leben innerhalb der Republik darstellen. Sie werden im Alter von 6 Jahren implantiert und ermöglichen es auch ohne eine Form des Headsets auszukommen.
 
 
 
 
Ich drehe dem Stahlskelett für einen Moment den Rücken zu und betrachte aus der Entfernung die Stadt, die durch die verschiedenen Neonlichter aus Purpurrot und Türkis hell erleuchtet werden. Auch wenn die Sonne gerade erst beginnt unterzugehen, erscheint die Republik wie ein Leuchtfeuer, welches alles mit seiner künstlichen Anziehungskraft überstrahlt. Mit einem Zwinkern trübt sich mein Blick. Ein staubig-brauner Dunst legt sich über die Stadt und die Gebäude wirken wie abgenutzte graue Säulen, eine so einheitlich und funktionell wie die andere. Die Sonne hat gerade erst begonnen unterzugehen, dennoch hüllt der Smog, den unsere Vorfahren hinterlassen hatten, den einst blühenden Planeten in einen Vorhang aus melancholischem Staub. Die Ausscheidungen eines verlorenen Volkes, das wir nicht mehr als unser Eigenes ansehen. Anstatt unter der Erde in eine sinnvollere Form zu verschmelzen, verweilen sie immer noch in allem um uns herum. Ein letztes Geschenk von denen die nichts anderes taten als sich zu nehmen. 
 
 
 
Die Ecke des Gebäudes erlaubt mir einen einfachen Zutritt. Die schon lange tote Vegetation formt einen Hang, der in den dritten Stock führt. Nach dem tückischen Aufstieg erkenne ich Anzeichen von menschlicher Besiedlung. Diese gleicht einem parasitären Befall, die jeden Wirt überlebt. Weggeworfene Sodaflaschen, Lebensmittelverpackungen und unzählige Zigarettenstummel sind über den provisorischen Fußboden aus geflickten Holzbrettern und zerfallendem Zement verstreut.
 
Wenigstens hatten sie die Intelligenz das Areal zu verstärken, in dem sie ihre Zeit verbrachten. Ich frage mich, wie sie dann zerfetzt draußen gelandet sind?
 
 
 
Jeder Schritt wird von einem Knacken unter meinen Füßen begleitet. Manchmal leise wie ein Seufzen, ein anderes Mal laut wie ein gequältes Stöhnen. Durch ein klaffendes Loch kann ich in die Dunkelheit hinabblicken, irgendwie kann ich mir nicht helfen und muss einen Moment auf die sich sanft bewegende Flüssigkeit, mehrere Stockwerke unter mir starren. Das Fundament des Stahlskeletts ist nun ein Auffangbecken und hat über Jahrzehnte hinweg Regenwasser aufgesammelt. Dieses bildete einen am Grund einen stagnierenden Eintopf, welcher einen Geruch abgibt, der meine Sinne wesentlich mehr angreift, als das frische Fleisch draußen.
 
Wären die Parasiten dort hineingefallen wären sie ganz einfach zu einem Teil dieser Brühe geworden, verdaut von dem bereits verrottenden Stahlskelett, ohne das jemals jemand von ihrem Schicksal erfahren hätte. Soweit man weiß könnten dort unten schon Dutzende mehr sein, die dachten dass es eine gute Idee sei sich in ein verlassenes Gebäude zu schleichen.
 
Solche Typen werden meistens nicht gefunden, auch wenn in einem seltenen Fall jemand tatsächlich nach ihnen sucht, sinniere ich.
 
Ungeachtet dessen, was auch immer zu den zerfetzten Leichen dort draußen geführt hat, scheint kein vorsätzlicher Mord gewesen zu sein. Mit Sicherheit hat die Typen irgendwas bereits vor dem Fall so „zart“ gemacht.
 
 

Die Holzbretter führen mich zu einer metallenen Box, welche sich bis zum Himmel erstreckt. Es handelt sich dabei um einen Aufzugsschacht, der es den Bewohnern erlaubt von einem Stock in einen anderen zu gelangen. Nun jedoch war die Methode eine einfache Sprossenleiter die im Inneren des Schachts angebracht ist. Ich beginne die Leiter heraufzuklettern und bin angenehm überrascht zu sehen, dass die Leiter nicht mehr als ein einfaches Klirren von sich gibt, welches von dem Kontakt von Metall auf Metall herrührt.
 
Bei jedem neuen Stock schaue ich durch die Öffnungen und finde nichts anderes vor, als zerfallene Überreste ohne ein Zeichen für Leben. Alle dutzend Sprossen fehlen einige davon oder hängen nur noch an einer Seite herab, zumindest im Moment erscheint dies günstig. Mit jedem Stock den ich hinter mich bringe, kann ich mir nicht helfen und frage ich mich, ob es sich so anfühlt wenn man reich ist. Wie ein gesundes Kind mit einem Baumhaus vor dem Fall. Dieser Aufzugsschacht führt zu dem Geheimversteck der Kinder bei dem sie dachten, dass es sicher sei.
 
So sicher wie man in den Außenbezirken sein kann, nehme ich an. 
 
 

Endlich finde ich mich an einer Öffnung wieder, die Anzeichen von Leben zeigen. 5 Kabelsätze sind um einen nahen Stahlträger gebunden und in diesem Stockwerk wahllos gebündelt. Sie haben diese Sachen wohl als Kletterausrüstung für ihren Weg hinauf verwendet, was nun die Frage aufwirft: Wie viele mehr von ihnen sind in diesem Gebäude? Keiner hat die Kabel verwendet um hinabzuklettern, aber zwei haben auf jeden Fall den schnellen Weg ins Erdgeschoss genommen.



Dieser Stock erscheint sicherer als alle anderen zuvor. Der Beton und etwas Gips sind zu großen Teilen immer noch intakt und bilden ein gebrochenes Netz aus betretbarem Terrain. Zerklüftete Ränder öffnen sich scheinbar zufällig zu kleinen Löchern, aber das meiste des Areals erscheint stabil bis hin zu den Rändern der Räume, die den tragenden Teilen des Gebäudes am nächsten sind. Vorsichtig tippe ich mit meinem Fuß auf den Boden, um zu testen ob er mein Gewicht halten würde. Mit einer Hand halte ich mich immer noch an der Sprossenleiter fest, bevor ich mich dazu durchringe den ersten Schritt zu wagen. Mein Körper ist schwerer als der eines normalen Menschen und wenn man sich die Überreste der Kinder draußen ansieht, scheint es sich bei ihnen um Leichtgewichte zu handeln.
 
Sichergehend dass ich so nah wie möglich an den Rändern bliebe, bewege ich mich vorwärts durch die Dunkelheit. Nach all der Zeit ist es unmöglich zu sagen, ob es sich um eine Ansammlung kleiner mietbarer Büroräume oder „extrem preiswerter“ Wohnräume handelt. Jeder Raum, der mit dem Hauptkorridor verbunden ist, war eine Kopie des vorherigen 15x15 Würfel. Die perfekte Größe für einen Arbeitsplatz oder ein Bett mit ein wenig Platz um sich zu dehnen und herumzulaufen. Es war der letzte Schrei des 21ten Jahrhunderts: Mit weniger mehr erreichen. Wenn es keine Freude bereitet, dann wird es rausgeschmissen. Wenn du dir Freude nicht leisten konntest, hattest du wenigstens ein Dach mit vier Wänden. Dann konntest du Stolz sein nur einen kleinen Klimaabdruck zu hinterlassen, zusammen mit tausenden anderen Personen die dieses Gebäude ebenfalls bewohnten. Alle bezahlten den reichen Vermieter, der sich selbst auf die Schulter klopfte, dafür dass er Wohnraum für Geringverdiener anbot.
 
 

Nein sorg dich nicht lieber Leser, dies ist keine dieser weinerlichen Geschichten mit einer versteckten Nachricht, bei der es um die Natur oder die Rettung des Planeten geht. Unser Problem hat sich schließlich von selbst erledigt. Nicht ohne Opfer, aber… Das ist eine Geschichte für ein anderes Mal. Genau jetzt bin ich besorgt über ein anderes zerfallendes Ökosystem.



Weinen!
 
Ganz leise in der Ferne zu vernehmen, gedämpft durch die vielen Schichten zwischen der Quelle und mir.


 
Ich lege meine Fingerspitzen auf die zerfallene Wand und fühle die Vibrationen die das Geräusch erzeugt. Unsicher, unregelmäßig und unverkennbar menschlich. Ein Abbild der Umgebung formt sich in meinen Gedanken - ein Kind, das von den Sensoren in meinem Arm und der Optik meiner IIs erzeugt wurde. Wie bei einer Fledermaus ausgenommen von dem übermäßigen Kreischen – zumindest aus meiner Sicht. Nimm die Dritte links und dann der 6te Raum auf der rechten Seite: Dort ist der Ursprung des Gejammers.



Drinnen treffe ich auf einen Jugendlichen, der wie in einem Bündel zusammengerollt ist. Der Junge hat sich in eine Embryonalstellung zurückgezogen und wimmert in seine Arme und Knie. Meine rechte Hand ballt sich zu einer Faust, während ich mein Bestes gebe meinen Gesichtsausdruck zusammen mit meiner Tonlage ruhiger werden zu lassen.



„Kleiner… bist du in Ordnung?“
 
Sein Kopf schnappt hoch und er blickt mich sofort an. Helles blaues Haar fällt in seine weitaufgerissenen gelben Augen, welche mit Panik erfüllt sind. Der übergroße grüne Wanderrucksack auf seinem Rücken und die Art und Weise wie er zusammengekauert da sitzt, verleihen ihm das Aussehen einer Schildkröte, die vorsichtig aus ihrem Panzer hervorlugt. 
 
 
 
Feigling in einem Halben Panzer. Cowabunga.
 
„E-es…. S-Sie… Wer..?“ 
 
 
 
Der Junge stotterte einige Worte, während er nach Luft schnappt. Jedoch sagten mir diese nicht viel. Immer noch unsicher, ob ich es nun mit einem reumütigen Mörder oder einem traumatisierten Opfer zu tun habe, setze ich mit einer möglichst sanften und fürsorglichen Stimme fort:
 
„Ich bin Fulgur Ovid, Legatus der Division 505. Kannst du mir sagen was hier passiert ist?“ 
 
 
 
Bei der Erwähnung meiner Division brach das Kind nach vorne zusammen, auf Händen und Knien in meine Richtung krabbelnd. Unbewusst trete ich einen Schritt zurück und hebe meine Arme in einer abwehrenden Geste, als das Kind sein Jammern fortsetzt:
 
„Rette mich- Du musst- Es- Bitte rette mich, es ist immer noch hier irgendwo!“

Die Augen des Kindes sehen sich panisch um, suchend nach Hilfe, welche nirgendwo zu finden ist, während sein Körper an Ort und Stelle erstarrt.



Ein weiterer Seufzer entweicht meiner Kehle, ohne dass sich mein Mund öffnet, während ich mich wieder entspanne.
 
„Okay, beruhig dich Kleiner. Was genau ist „ES“?“



Gerade als diese Frage meine Lippen verlässt, wird ich mir bewusst, dass sich mir ein seltsames Geräusch nähert, welches immer lauter wird. Dieser Zementsarg erschwert zu sagen aus welcher Richtung es mich erreicht, nur mit der alleinigen Hilfe meiner Ohren. Also trete ich einen Schritt zurück in den Korridor und lasse meine Hand ein weiteres Mal auf dem zerfallenden Rahmen ruhen. Instinktiv weicht der Teenager zurück in die hinterste Ecke und rollt sich wieder in eine Embryonalstellung zusammen.
 
Es kommt von links, jedoch nur sehr langsam. Mit jeder Sekunde wird das Geräusch klarer – eine Art von Schleifen und Ziehen von fleischlichem Material, wie es sich fortbewegt. Ich trete einen Schritt heraus und in den Flur hinein. Dort warte ich darauf mich mit „ihm“ auseinanderzusetzen.



„Ist… sie diejenige vor der du Angst hast?“ frage ich, erwarte jedoch keine Antwort. Stattdessen setze ich mein Gespräch mit „ihr“ fort. „Gnädige Frau, ich bin hier um zu helfen. Sind Sie in Ordnung?“



Sie hört auf sich zu bewegen. Ihr Kopf jedoch bewegt sich von einer Seite zur anderen, als sie versucht meine Stimme in der Dunkelheit auszumachen. Die Form, die ich in einer Ecke erkenne, ist die einer erwachsenen Frau, deren Fußgelenke verbunden und deren Handgelenke hinter dem Rücken gefesselt sind. Das alles in einer sehr schmerzhaft aussehenden, yoga-ähnlichen Position. Ein helles Nachthemd bedeckt ihren Körper, was jedoch einen Großteil der Haut der toxischen Luft auslieferte. Ein paar Schluchzer und ein Murmeln entkommen ihrem Mund, welcher wie ich jetzt erst feststelle, geknebelt ist. Die Kabel an ihren Extremitäten und eine Binde über ihren Augen sind die einzigen anderen Materialien die ihre blasse Haut zusätzlich bedecken. Der Junge in der einen Ecke des Raumes beginnt laut zu weinen und schreit:

„Töte es! Töte es bevor es uns kriegt!“  



Die Frau rutscht auf dem dreckigen Boden hin und her, da sie sich nur so fortbewegen kann, ihre Knie von Schrammen gezeichnet. Während sie sich durch die Finsternis quält, quillt eine dunkle Flüssigkeit aus dem zerrissenen Fleisch hervor.



„Gnädige Frau, ich bin nicht hier, um Ihnen wehzutun.“ Ich öffne meine Arme und obwohl sie mich nicht sehen kann, strecke ich ihr meine Finger, in einer harmlosen Gestik, entgegen, als ich mich auf den Weg zu ihr mache. „Ich bin ein Legatus. Während ich Sie entfessele, müssen Sie einen Moment still halten. Können Sie mir den Gefallen tun?“
 
Ein zustimmendes Stöhnen entweicht ihren Lippen, während sie nahezu genau so viel schluchzt wie der Junge. Ich knie mich zu ihr und schaue mir ihren Körper an. Ich blinzele einige Male vor Ekel. Sie ist definitiv schon seit einer Weile hier und es gibt mehr als genug Anzeichen, dass sie Opfer von Missbrauch wurde.



„Ich kann die Fesseln nicht lösen oder Ihnen die Augenbinde abnehmen, aber Sie können jetzt sprechen. Können Sie mir Ihren Namen nennen und was genau vorgefallen ist?

 
 
Nachdem ich ihr die Mundsperre abnahm, keuchte sie einige Male.

„D-Dana", sagt sie, während ich sie aufmerksam beäuge.

„Es wird alles gut, Dana. Sie können Ihnen nicht mehr wehtun", ganz besonders die dort draußen, füge ich für mich selbst hinzu. „Wie sind Sie hier gelandet?"

Wieder in der Lage zu sprechen, schluchzt sie noch einige Male. Ein gewaltsames Zittern durchfährt jedes Mal ihren Körper. Ich wünschte, ich könnte es für sie angenehmer machen, doch die verbogene und blinde Gestalt ist jenseits meines Einflusses.



"Ich weiß es nicht!" Sie schluchzt weiter und ich warte darauf, dass sie aufhört. Ihre Stimme ist kratzig, ein bisschen pfeifend. „Ich weiß noch, dass ich letzte Nacht schlafen gegangen bin. Oder- vielleicht ist es auch schon einige Tage her. Als ich aufwachte, fand ich mich… so… in einem anderem Raum festgebunden vor. Ich konnte weder sprechen noch etwas sehen, aber ich habe versucht um Hilfe zu rufen. Ein wenig später sind sie aufgetaucht. Sie verhöhnten und… lachten mich aus... sie... sie bewarfen mich mit Dingen und traten mich!" Mittlerweile ist sie in Tränen ausgebrochen. 
 
Ich knie eine lange Zeit neben ihr. Ich kann ihr nur durch sanftes Tätscheln Trost anbieten, während sie ihrem Schmerz und der Qual Raum lässt. Als sie beruhigt hat, schmerzen mein Rücken und meine Oberschenkel vom Hinknien. Mitanzusehen, in was für einer Verzerrung sie gezwungen ist zu existieren, sorgt bei mir für frustriertes Zähneknirschen. Sie weiß nicht einmal, weshalb sie hier ist und wer dafür verantwortlich ist. Stillschweigend sitzen wir auf dem Boden und sind beide unfähig, den nächsten Schritt zu wagen.
 
 
 
„I-Ist es fertig?"

Die Teenager-Schildkröte hebt ihren Kopf aus dem Raum hervor, in dem sie sich versteckt. Seine Worte sind von Tränen und Rotz unterdrückt.

„Das ist einer von ihnen!" schreit die Frau als sie rückwärts kriecht. „Sie haben mich Stunden, vielleicht sogar Tage, gequält, bevor sie endlich eine Pause gemacht haben. Nur dann so konnte ich mich vom Boden befreien. Als sie wieder auf mich zukamen, habe ich sie geschlagen um zu entkommen. Hier müssten noch zwei weitere sein! Sie müssen sie verhaften!

Während die Frau panisch schreit, starre ich den Jungen an. Er ist wieder geschrumpft und sein Gesicht zeigt seine Schuld, als es sicherheitshalber in einen anderen Raum verschwindet.
 
 
 
„Das werde ich", verspreche ich ihr, während ich weiter meine Hand erhebe. „Er und seine Freunde werden ihre gerechte Strafe erhalten. Er traut sich nicht einmal wegzulaufen." Ein weiteres Mal tätschele ich die Schulter der Frau mit meiner freien Hand in Mitgefühl. Da ich bemerke, dass es sie zu beruhigen scheint, lege ich meine Hand behutsam auf ihren Hinterkopf. „Nun, sind Sie bereit, dass ich Sie befreie?"
 
Sie nickt und windet sich ein wenig, um mir mehr von ihrem Rücken und der verdrehten  Stellung zu zeigen, in der sie gefangen ist. Der Anblick schimmert und pulsiert leicht. Ihre blasse Haut ist so klar wie Frost im Winter, das Goldbraun ihrer Haare so leuchtend wie die letzten Blätter, die sich an den Baum im Winter klammern. Zu Lebenszeiten muss sie eine einmalige Naturschönheit gewesen sein.
 

-KNIRSCH- 
 
 

Ich schließe meine Faust auf der Hinterseite ihres Schädels. Ein letztes Mal pulsiert ihre Gestalt mit dem Licht bevor es schlussendlich verblasst und mit den gedämpften Tönen des Gebäudes drum herum übereinstimmt. Ein Schaltkreislauf und Metallregen auf dem Boden. In meiner Hand verbleibt nur noch eine zerschmetterte Festplatte. Ich ziehe meine Hand zurück und betrachte den Rest der echten Gestalt vor mir.
 
 
 
In einem anderen Leben wäre diese Maschine vermutlich Teil eines Baugerätes, welches mit einer AI für automatisierte Arbeitsabläufe ausgerüstet wurde. Sie wurde mit dem Gebäude sich selbst überlassen, bis eine Gruppe Monster sie fand und ihr wieder einen Nutzen gab. Die Arbeit ist schäbig und zahlreiche Kabel und Komponenten quellen aus ihrer ursprünglichen Form, die einer Box ähnelt. Die zusammenhängenden Gleise, die ihr einst Bewegung verliehen, sind gerostet und zerbrochen, dies betrifft auch die zusätzlich hinzugefügten Kabel und Komponenten, die sie unter sich her schleift. Sofern notwendig, ist die Maschine auch dazu in der Lage, Wände zu durchbrechen. Daher konnte sie kurzweilig einen Stoß ausführen, bewegte sich aber anderweitig eher langsam fort. Es ist nicht überraschend, dass sie dachte, sie sei gefesselt und am Boden befestigt. In ihrem "Verstand" stellte sie sich wahrscheinlich lediglich vor, wie sie ihren Kopf gegen die zwei Jungen drückte, die sie durch die Wand schmetterte.

Bei "ihr" handelte es sich um einen modifizierten I'mprint, den die Jugendlichen in den Bot eingespeist hatten.

I'mprints definieren sich als eine digital codierte Form des menschlichen Bewusstseins. Diesen Prozess gibt es schon seit mehreren Jahrzehnten und hat eigene Gesetzvorschriften, mit denen ich euch nicht langweilen will. Die wichtigste dieser Regeln haben die Jungs nicht befolgt: Ein I'mprint muss sich immer daran erinnern können, dass es ein I'mprint ist. Nachdem die Prozedur abgeschlossen ist (was, ähnlich wie bei einem MRT, einen halben Tag in einer Maschine bedeutet), kann das I'mprint Monate, Jahre, oder sogar Jahrzehnte später aktiviert werden. Als letztes müssen sie sich an die Prozedur erinnern, sodass sich I'mprints immer ihrer Identität bewusst sind, selbst wenn sie unter einem anderen Umstand aufwachen. Diesen spezifischen Code zu bearbeiten, kann dafür sorgen, dass das I'mprint seine Erinnerung daran verliert und glaubt, die ursprüngliche Person zu sein und sich nicht bewusst ist, dass es sich um eine I'mprint-Kopie handelt. Glücklicherweise gibt es nur eine Handvoll an Personen, die jemals erfolgreich ein I'mprint gehackt haben.

Wer auch immer dieses I'mprint gehackt hat, hat gute Arbeit geleistet. In einigen Fällen würde es Kontrolle über sich selbst verlieren. Jedoch hat dieses sich an seinen ursprünglichen Namen und die physische Form erinnert, sodass es sich davon überzeugen konnte, lediglich gefesselt zu sein. Es war sich nicht bewusst, dass es sich nur um eine Maschine ohne funktionierende Sicht oder Glieder handelt. Die Sprechfunktion war stummgeschaltet um den Horror zu verdrängen, dem es ausgesetzt war. Dana hat als I'mprint so viel Horror durchlebt und wurde im Glauben gelassen, es handelte sich um mehrere Tage. In Wahrheit hatten die Jungs wahrscheinlich Wochen, wenn nicht sogar Monate, damit verbracht, sie zu missbrauchen und sie zwischen den Sessions ausgeschaltet. Währenddessen hätte Dana als Frau überall sein können und ihr Leben in vollen Zügen genießen können. Sie weiß vielleicht noch nicht einmal, dass jemand ihren I'mprint Code gehackt und mehrere Kopien ihrer Vergangenheit erstellt hat, damit Monster  mit ihnen zu spielen können. Oder sie hat ihren eigenen Code für ein wenig Extrageld verkauft. Sobald das Original von diesen Situationen hört und welchen Taten ihre Kopien unterworfen wurden, führt dies normalerweise zu Reue. Ich habe keinen Mund, doch muss ich schreien. Ich habe keine Nerven, doch spüre ich Schmerz... unaufhörlich.

Ein weiter Hinweis nach diesem Fall. Falls es der überlebende Junge nicht macht, könnte es zum Hacker selbst führen. 



Ein Geräusche-Chor reißt mich aus meinen Gedanken, als die Teenager-Schildkröte ihre Beine wiederfindet und zum Aufzug krabbelt, nun in Sicherheit vor dem Monster, welches sie selber erschaffen hat. Ich schließe bereits zu ihm auf, während er die Kabel verbindet um hinabzusteigen. Während ich voranschreite, halte ich ihn am Kragen fest. Sein Oberkörper ragt über den leeren Schacht. Würde ich loslassen, würde er genau wie seine Freunde herunterfallen. Allerdings würde er durch keine Wand geschmettert und so gesunde Proteine für den Stahlgiganten werden. Die begrenzte Bewegungsfreiheit und die Tatsache, dass sie nicht sehr gut auftreiben, sind ein weiter Grund, weshalb diese längst überholten Anzüge wenig Anwendung finden. 
 
 
 
"Bitte! Es tut mir leid! Ich bezahle die Geldstrafe! Ich werde meine Zeit absitzen, tun Sie mir bitte nicht weh", schreit das Kind, als seine fleischigen Hände sich verzweifelt an meinen festen Arm klammern.

"Wo hast du den gehackten Duo heruntergeladen?", frage ich. Meine Stimme ist dabei so bedächtig und stählern wie mein Arm.

"Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht".

Ich mache einen Schritt nach vorne, so dass der Junge in einem noch viel gefährlicheren Winkel hängt. Ein weiterer Schrei fährt aus ihm hervor. "Es war Darren! Mein Freund hat ihn online bekommen! Von irgendeiner anon Porno-Website! Bitteeee!"



Während ich den Jungen einen Moment hängen lasse, starre ich in sein Gesicht. Obwohl es sie pulsiert und schimmert, ist die Angst echt. Das ist alles, was er weiß, daher hat er keinen weiteren Nutzen. Ihn festzunehmen, führt wahrscheinlich nur zu irgendeinem Wehrdienst, da seine Familie wohl kaum seine hohe Kaution bezahlen kann. Er bekommt theoretisch eine Karrieregelegenheit dafür, dass er ein I'mprint gequält hat... Es sei denn... 
 
 

Während er im Schacht baumelt, reiße ich das Kabel aus seiner Hand. Den einzigen Ausweg vom Unheil unter uns. Wird er in der Schwere seiner Sünden ertrinken? Verdient er den Spinnenfaden der Vergebung?
 
 
 



Ich scherze natürlich nur, lieber Zuhörer. Ich unterstütze die Methoden im Umgang mit Duo-Missbrauch der Republik nicht, zeitgleich bin ich aber auch nicht arrogant genug, mich als Richter oder Vollstrecker anzusehen. Furcht ist nun mal ein gutes Wahrheitsserum. Ich wäre schon längst wahnsinnig geworden, würde ich bei jedem Fall emotional werden. I'mprints sind keine Menschen und obwohl ich mit ihnen sympathisiere, lasse ich es nicht außerhalb meiner Arbeit an mich heran. Meine Arbeit hier ist erledigt und ich kann es kaum erwarten, Feierabend zu machen und etwas zu trinken.



Ich befestige das Kabel an dem Rucksack des Kindes und blinzele erneut, wodurch seine pulsierende Visage verschwindet. Stattdessen sehen meine grauen Augen nun das bisschen, was seine wahre Gestalt ist. Es ist ein menschenförmiger, dumpfgrauer Klumpen, mit riesigen optischen Linsen im Gesicht und einer kantigen Bauchgegend, die seine Atemluft sauber hält. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass er sicher am Kabel befestigt ist, schiebe ich ihn rüber zur Leiter.

"Wag es noch einmal zu laufen und ich werde dir ein Ende bereiten", lüge ich, während ich ihn loslasse. In Wahrheit wäre er problemlos einzufangen. Die Formalitäten, die ein menschliches Opfer betreffen, würden wahrscheinlich mehr Aufwand benötigen als ihn weiter zu verfolgen, von daher ist es am besten, dies zu vermeiden.  Die Rückfahrt zum HQ dauert schon lange genug und der Bericht oben drauf bringt mich schon in die Überstunden.


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Translator: Arina & Hikaru

Proofreader: Drawn

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